Im Englischen gibt es einen Begriff für das, was gerade mit Matter passiert: „Growing Pains“, auf Deutsch „Wachstumsschmerzen“. Er beschreibt die Situation besser als das hierzulande gebräuchliche Wort Kinderkrankheiten, denn Masern und Windpocken kann man auch als Erwachsener noch bekommen – mit teils unangenehmen Folgen. Bei Matter hingegen hoffen alle, dass die Anlaufschwierigkeiten sich herauswachsen, zu einem stattlichen, leistungsfähigen Smarthome-Standard. Auch wenn die Zuversicht manchmal auf eine harte Probe gestellt wird. Das zeigte sich dieses Mal schon am Vorabend der Elektronikmesse IFA in Berlin, als Aussteller Nanoleaf seine Keynote live aus Kanada streamte.
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Thread-Probleme und ihre Lösung
Matter-Pionier Nanoleaf verkündete in dieser Präsentation den lange erwarteten Marktstart seines multifunktionalen Funktasters Sense+, erwähnte andere ausstehende Thread-Produkte wie die Nala Bridge oder das Matter-Update seiner Sklight-Panels aber nicht. Stattdessen erweitert er sein Sortiment an Matter-fähigen Leuchtmitteln nun um WLAN-Lampen – und setzt zusätzlich auf ein eigenes Funkprotokoll namens Litewave, um Produkte zu steuern. Das erweckt nicht den Eindruck, als würde Nanoleaf mit einer raschen weiteren Verbreitung Thread-Protokolls rechnen. Auf Nachfrage erklärte Gimmy Chu, Mitgründer von Nanloeaf im Stream: „Es geht um Zugänglichkeit. Nicht jeder versteht, was Thread ist, was Border Router sind. Und am Ende greifen manche lieber zu einem WLAN-Produkt. Darum komplettieren wir unser Sortiment mit WLAN-Lampen.”
Eve Systems, einer der aktivsten Thread-Unterstützer, war gar nicht mit eigenem Messestand in Berlin vertreten. Eve-Produkte gab es – neben anderen Marken der ABB-Familie – nur in der Samsung-Halle bei SmartThings zu sehen. Netatmo, auf deren angekündigten Thread-Sensor wir seit über zwei Jahren warten, glänzte ebenfalls durch Abwesenheit. Das Unternehmen hat in Paris stattdessen eine neue, preisgünstige Smarthome Marke namens Omajin gestartet – ohne Matter-Unterstützung (link).
Es ist kein Geheimnis, dass die Verbreitung von Thread langsamer vonstattengeht, als viele gehofft hatten. Ein Grund dafür sind die offenen Baustellen im Matter-Standard. Und hier im Besonderen das Unvermögen vieler Border Router, ein gemeinsames, herstellerübergreifendes Mesh-Netzwerk zu bilden (siehe Interview: „Das ist noch nicht der gewünschte Zustand“). Es wäre allerdings voreilig, das Thread-Protokoll gleich abzuschreiben. Nicht nur, weil die Anbieter mit Software-Updates in den vergangenen Monaten viel verbessert haben. Apple und Google bauen den Standard in ihre jüngsten Smartphones ein. Und auch von übergeordneter Stelle ist Abhilfe in Sicht.
Am 4. September 2024, einen Tag vor Beginn der IFA, hat die Thread Group neue Spezifikationen veröffentlicht (link). Version 1.4 des Funkprotokolls erleichtert den Aufbau gemeinsamer Mesh-Netzwerke. Und im anstehenden Matter-Release 1.4 dürften Border Router als neue Geräteklasse enthalten sein – neben Wärmepumpen, Batteriespeichern und anderen Produktkategorien (nein, Kameras schaffen es wohl auch dieses Mal nicht in den Standard, hat mir Chris LaPré, Head of Technology der CSA, in Berlin verraten).
Beide Neuerungen werden dazu führen, dass Thread an Zuverlässigkeit und Interoperabilität gewinnt, was seinen Einsatz erleichtert – weil niemand mehr über die Auswahl des richtigen Border Routers nachdenken muss. Allerdings wird die Umsetzung Zeit benötigen. Wenn man bedenkt, dass aktuell noch nicht einmal Matter 1.3 so richtig im Markt angekommen ist, dürfte mit entsprechenden Border Routern nicht vor Mitte, Ende 2025 zu rechnen sein.
Dual-Funk-Produkte mit Zigbee und Thread
Manche Hersteller möchten nicht so lange warten und fahren zweigleisig. Ihre neuen Produkte beherrschen sowohl Zigbee als auch Thread. Das lässt Käufern die Wahl, welches Funkprotokoll sie nutzen möchten, und erlaubt ihnen jederzeit den Umstieg. Beispiel Bosch: Die Komponenten der neuen Baureihe [+M] sind umschaltbar. Im Zigbee-Betrieb kontaktieren sie den Smarthome-Controller des Unternehmens und unterstützen die umfangreichen Funktionen des Bosch-Systems. Da der Controller gleichzeitig als Matter Bridge arbeitet, ist über ihn auch eine Verbindung mit Plattformen wie Alexa, Apple Home oder SmartThings möglich. Das Beste aus beiden Welten gewissermaßen.
Der andere Weg führt über Thread: Per Tastendruck am Gehäuse wechseln [+M]-Geräte in den nativen Matter-Modus, der vorhandene Border Router zur Verbindung nutzt. Ein Bosch-Controller wird in diesem Fall nicht benötigt, was die Geräte unabhängig macht vom Smarthome-System des Herstellers. Bis Ende 2024 sind zunächst drei Produkte der neuen Serie geplant: Heizkörper-Thermostat, Tür-/Fensterkontakt und Zwischenstecker. „Unser Ziel ist es aber, schrittweise das gesamte Zigbee-Sortiment umzustellen“, so Christian Thess, Geschäftsführer von Bosch Smart Home in unserem Gespräch auf der IFA.
Aqara verfolgt eine ähnliche Strategie und zeigte in Berlin verschiedene Produkte, die beide Protokolle unterstützen, darunter Lichtschalter, Dimmer und einen Wandtaster für Rollläden. „So müssen Benutzer keine zwei Versionen desselben Produktes kaufen“, erklärt Cathy You, Business Development and Strategy Lead. „Wir haben früher schon reine Matter-Sensoren mit Thread auf den Markt gebracht, aber deren Möglichkeiten waren eingeschränkt. Viele Benutzer haben erst nach dem Kauf festgestellt, dass sie damit an ihrem Zigbee-Hub nichts anfangen konnten“.
Auch deshalb entwickelte Aqara den Hub M3 mit beiden Protokollen: „Er schlägt die Brücke zwischen Zigbee und Thread. Und dieses Konzept werden wir auch auf andere Komponenten des Sortiments übertragen, um sie zugänglicher zu machen. Ich kann nicht versprechen, dass es in allen Produkten kommt“, so Cathy You, “aber wir prüfen das von Fall zu Fall.“
Für Hersteller bedeutet die Funk-Kombination mehr Entwicklungsaufwand. Sie ist technisch aber kein Hexenwerk, weil Funkchips der neuesten Generation oft beide Protokolle beherrschen. Mir sind Anbieter bekannt, die ihre Zigbee-Komponenten jederzeit softwaregesteuert auf Thread umschalten könnten, wenn sie es wollten. Sie kommunizieren diese Tatsache aber nicht öffentlich, um keine falschen Erwartungen zu wecken. Denn zur Unterstützung von Matter gehört eben mehr als das Funkprotokoll. Die Anforderungen an die Hardware sind hoch und immer für Überraschungen gut, wie Bosch im Laufe der Entwicklung feststellen musste: „Wir hatten gehofft, der ersten Generation unseres Smarthome-Controllers ebenfalls ein Matter-Update spendieren zu können”, so Geschäftsführer Thess. „Am Ende ließ sich das aber doch nicht realisieren“.
Die ersten Kühlschränke mit Matter
Manche Einschränkungen treffen die Anbieter völlig schuldlos, wie ein weiteres Beispiel aus der Bosch-Familie zeigt. Die zum Konzern gehörende Hausgeräte-Gruppe BSH mit Marken wie Bosch, Gaggenau, Neff und Siemens hat schon länger kompatible Kühlschränke angekündigt. Zwei Matter-fähige Kühl-Gefrier-Kombinationen der Marken Bosch und Siemens waren in Berlin zu sehen. Sie sollen im ersten Quartal 2025 ihr Software-Update erhalten und damit grundlegende Einstellungen wie ein/aus, Temperatur und Betriebsarten über Matter verfügbar machen. Das Smart Kitchen Dock von Siemens dient außerdem als Vermittler zwischen vernetzten BSH-Geräten ohne Matter und dem neuen Smarthome-Standard. Es stellt als Matter-Bridge die Verbindungen her.
Problem dabei: Von den großen Matter-Plattformen hat aktuell nur SmartThings seine Hubs auf Version 1.2 aktualisiert. Wer Alexa, Apple Home oder Google Home nutzt, könnte Matter-fähige Hausgeräte selbst dann nicht steuern, wenn es welche gäbe. Kühlschränke, Waschmaschinen oder Geschirrspüler sind diesen Systemen bislang fremd. Zumindest für Saugroboter hat Apple in iOS18 Unterstützung angekündigt. Eventuell kommt bis 2025 noch mehr. Das uneinheitliche Tempo, mit dem die Plattformen neue Matter-Versionen umsetzen, motiviert Hersteller allerdings nicht gerade dazu, Produkte dafür zu entwickeln.
Kleine, unabhängige Matter Controller
Vielleicht bahnt auch hier sich eine Lösung an, die auf Eigeninitiative der Hersteller basiert. Statt abzuwarten, bis die Großen sich bewegen, fangen Unternehmen an, ihre eigenen Matter Controller zu entwickeln. Ein Weg, der im Standard schon immer vorgesehen war – im langen Schatten von Apple, Google & Co. aber kaum Beachtung fand. „Zu aufwendig … zu teuer … für kleine Unternehmen kaum zu stemmen“, lauteten die Antworten auf meine Frage nach einer Steuerung, die unabhängig von den großen Konzerne ist. Mit Ausnahme des coolen – allerdings kaum erhältlichen – Mui Board aus Japan ist auf diesem Gebiet noch wenig passiert.
Dass ein schwedisches Start-up mit 15 Angestellten es trotzdem wagt, lässt hoffen. Shortcut Labs war aus Stockholm nach Berlin gereist, um seine smarten Flic Buttons und den Drehregler Twist als Controller zu präsentieren. Nach einer kurzen Beta-Phase können beide Produkte über einen Flic Hub nun offiziell auch Matter-Produkte steuern. Es ist gewissermaßen die Flucht nach vor, weil die üblichen Matter-Plattformen einen Drehrregler wie den Twist gar nicht unterstützen. Und gemessen am Feature-Paket von großen, smarten Displays mit Sprachsteuerung sind Knöpfe zum Drehen und Drücken natürlich eingeschränkt. Aber es zeigt, dass Matter keine Infrastuktur der großen Plattformen braucht. So geht zum Beispiel auch Vestel diesen Weg. Die türkische Elektronik- und Hausgerätemarke zeigte in Berlin einen Fernseher mit integriertem Matter-Hub. Falls es mal kein Samsung, LG oder Google TV mit integriertem Controller sein soll.
Der Standard etabliert sich
Was auffiel in den Messehallen rund um den Berliner Funkturm: Der erste Matter-Hype ist vorüber und Normalität hält Einzug. Zwar warben chinesische Marken wie Changhong, Govee, Heiman oder Meross noch deutlich mit dem Begriff am Stand, das Logo und der Name kamen sonst aber nur am Rande zum Einsatz. Für Samsung ist der Standard ein Teil des hauseigenen SmartThings-Ökosystems, der nicht groß betont werden muss. Da taucht dann nur der Hinweis „Matter-comaptible SmartThings Hub inside“ auf einem Schild neben dem ausgestellten Family-Hub-Kühlschrank auf.
Ausnahmen wie die Präsentation von LG bestätigen die Regel. Der koreanische Wettbewerber hat zwar bereits Matter-fähige TV-Geräte mit dem Betriebssystem WebOS am Markt, kann aber auf keine herstellerübergreifende Haussteuerung à la SmartThings verweisen. Wohl auch aus diesem Grund übernahm LG im Sommer 2024 das niederländische Unternehmen Athom, bekannt für seine Smarthome-Plattform Homey und den Hub Homey Pro (link).
Athoms Know-how soll nun in die LG-eigene Plattform Thinq integriert werden. Jedoch nicht via Homey Pro, sondern über eine eigene Zentrale namens Thinq ON, die Ende des Jahres zunächst in Korea auf den Markt kommt (link), so zumindest die Planung. Sie wird Matter-zertifiziert sein und über die Funkstandards WLAN und Thread verfügen. Denn allen Wachstumsschmerzen, enttäuschten Erwartungen und Verzögerungen zum Trotz: An Matter führt langfristig wohl doch kein Weg vorbei.
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