„Matter funktioniert nach demokratischen Prinzipien“

Ein Interview mit Jürgen Pansy, Chief Innovation Officer und Mitbegründer des Smart-Lock-Herstellers Nuki (link). Das Unternehmen aus Österreich hat für 2023 einen Türschlossantrieb mit dem Matter-Standard angekündigt. Was von dem Produkt zu erwarten ist, und warum manche Entwicklungen für Matter so lange dauern, erklärt Pansy im Gespräch mit matter-smarthome.

The interview was conducted in German.
Please click here for the English translation.

Dass Nuki an einem neuen Smart Lock mit Matter arbeitet, ist bekannt. Nun haben Sie erklärt, dass es Ihnen gelungen ist, einen dritten Schließzustand im Matter-Standard zu etablieren: neben Auf- und Zuschließen auch das Ziehen der Falle. Warum war das wichtig?

Jürgen Pansy: Einen Standard, der nicht nur auf- und zusperrt, sondern auch Aufsperren kann, ohne die Falle zu ziehen, haben wir schon immer gewollt, bereits in HomeKit. Weil dieser dritte Zustand und das Wissen, dass ein Schloss ihn unterstützt, unserer Meinung nach für europäische Türen wichtig ist. Aber HomeKit war eine reine Apple-Veranstaltung und die Produktmanager sitzen alle in den USA. Sie haben wenig Ahnung von europäischen Türen, weshalb es für uns schwierig war, dort durchzudringen.

Matter ist jetzt quasi HomeKit für alle. Apple hat seine Erfahrungen mit HomeKit in Matter eingebracht. Google hat etwas Ähnliches mit dem Funkprotokoll Thread getan, das sie bei der Übernahme von Nest quasi mitgekauft haben. Andere Firmen wie Amazon machen mit und auch wir können uns jetzt einbringen, weil die ganze Organisation nach demokratischen Prinzipien funktioniert.

Wie muss man sich das in der Praxis vorstellen?

Pansy: Wir haben einen Änderungsvorschlag zur Matter-Spezifikation gemacht. Wenn solch ein Antrag genügend Parteien findet, die ihn akzeptieren, kommt er auf die Liste für die nächste Matter-Version. In unserem Fall ist das Matter 1.2, das im Herbst verabschiedet wird. Es gibt Fristen, innerhalb derer ein Einspruch erhoben werden kann, und wenn alles durchgeht, wird die Funktion in den Standard aufgenommen.

Das ist aber nicht alles, denn die Connectivity Standards Alliance (CSA) macht ja nicht nur beschriebenes Papier, also die Spezifikationen. Hinzu kommen Testpläne und -tools für das Zertifizierungsprogramm, es gibt ein Software Development Kit (SDK) mit Beispielapplikationen, die man auf den verschiedenen Plattformen installieren kann. Und damit ein Feature es wirklich in den Standard schafft, muss es an allen diesen Stellen berücksichtigt werden. Daran arbeiten wir gerade. Über die ganzen Einspruchsfristen und das Auflösen von Einsprüchen können Monate vergehen, aber so ist das nun mal in einem demokratischen Prozess.


„Einen Standard, der nicht nur auf- und zusperrt, haben wir schon immer gewollt, bereits in HomeKit.“


Wer hat Ihren Antrag unterstützt, auch Wettbewerber?

Pansy: Ich kann keine Namen nennen, nur so viel: Es waren keine Schlosshersteller. Wir haben uns Leute gesucht, die das mit vertretbarem Aufwand umsetzen konnten, weil von unseren Mitbewerbern keiner in der CSA engagiert ist. Trotzdem profitieren am Ende alle davon, denn die ganzen Arbeiten an Test Cases und dem SDK sind für die Allgemeinheit. Jeder kann sie später nutzen und ein Matter-fähiges Smart Lock damit bauen.

Solche gemeinnützigen Tätigkeiten sind erstens nicht jedermanns Sache und zweitens macht man sie nur, wenn man Zeit hat. Wir haben jetzt auch nicht so viele Ressourcen wie große Firmen, daher beschränken wir uns auf eingeschränkte Bereiche wie Türschlösser und versuchen den Standard an diesem Prunkt voranzubringen. Auch, weil es sonst niemand tut.

Hinter dem Ganzen steckt die Hoffnung, dass die gemeinsame Sprache unsere gesamte Industrie weiterbringt. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist Apple. Die haben ihr HomeKit genommen, das sie zehn Jahre lang geprägt und bis zu einer gewissen Reife entwickelt hatten, und in Open Source eingebracht. Es gibt Apple-Mitarbeiter, die für Matter Code schreiben, um den Standard voranzubringen. Und das sind keine schlechten Leute. Man sitzt da in der CSA mit denselben Menschen am Tisch, die das Bonjour-Protokoll entwickelt haben, das heute überall zum Einsatz kommt.

Der neue Schließzustand kommt also mit Matter-Version 1.2?

Pansy: Theoretisch ja, aber die Funktion im Standard zu haben, ist nur die halbe Geschichte. Matter-Controller müssen sie auch implementieren und nutzen. Der Door Lock Cluster ist ein gutes Beispiel. Zum Verständnis: Es gibt für jede Applikation in der Spezifikation einen sogenannten Cluster, etwa den Lightning-Cluster, den On-/Off-Cluster für Steckdosen oder eben den Lock Cluster.

Die Spezifikation für Türschlösser ist 40 Seiten lang. Sie umfasst Dinge wie das Anlegen von neuen Benutzern, die Anmeldung von Keypads am Schloss oder den zeitlich begrenzten Zugriff. Warum? Weil die CSA, die auch die Standardisierungsorganisation von Zigbee ist, Wert darauf gelegt hat, dass die existierenden Zigbee-Cluster in den Matter-Standard übernommen werden. Nun stehen sämtliche Features, die jemals für Zigbee-Locks definiert wurden, auch bei Matter drinnen. Ich sage bewusst, sie stehen drin, weil Apple, Google & Co. aus den 40 Seiten im Wesentlichen zwei Kommandos übernommen haben: das Auf- und Zusperren.

Neuerungen wie das Aufsperren ohne die Falle zu betätigen da zu etablieren ist nicht trivial, denn die User Interfaces sehen so etwas aktuell gar nicht vor. Die Tür ist entweder auf oder zu. Dass ich an einem Schloss aufsperren möchte, ohne die Falle zu ziehen, erfordert ein zusätzliches Bedienelement in der App. Sie können sich vorstellen, was es bedeutet, etwa in Apple Home ein neues UI-Element haben zu wollen, das bislang kein anderes Gerät benötigt. Noch dazu für ein optionales Feature, das praktisch nur die Europäer interessiert.


„Neuerungen wie das Aufsperren ohne die Falle zu betätigen, sind den User Interfaces gar nicht vorgesehen.“


Heißt das, es kann bis nächstes Jahr dauern, bis das Feature in den Ökosystemen auftaucht?

Pansy: So lange wird es ziemlich sicher dauern. Denn zum einen kann ein Smart Lock den Funktionsumfang von Matter 1.2 erst dann beherrschen, wenn Matter 1.2 überhaupt released ist. Gut möglich, dass wir das Lock auf den Markt bringen und Matter 1.2 erst nachträglich per Update folgt.

Und ja, dann müssen die Matter-Controller das Feature erst noch einbauen. Ob sie das tun, obliegt ganz ihnen. Etwas schneller könnte es beim Home Assistant gehen, dem aktuell einzigen Controller auf dem Markt, der selbst Open Source ist. Für diese Plattform könnte es rasch eine Referenz-Implementierung geben. Bei den Großen wird es sicherlich dauern, weil das UI-Problem gar nicht so einfach zu lösen ist.

Und andere Funktionen im Door-Lock-Cluster? Werden die jemals einen Weg in die Apps der Ökosysteme finden?

Pansy: Das ist ein Henne-Ei-Problem. Wir könnten natürlich alle diese Funktionen von Matter unterstützen, aber wenn keine Controller existieren, die das einbauen, sind sie nutzlos. Andererseits es gibt es strategische Entscheidungen, welche Features wir mit unserer eigenen App bieten wollen und gar nicht möchten, dass Anwender sie über Matter bei Apple, Google & Co. nutzen. Ein denkbarer Weg wäre, dass ich ein Matter-fähiges Nuki über die Matter-Plattformen installieren kann, ohne unsere Nuki-App zu verwenden. Für weitergehende Funktionen laden sich Nutzer dann aber unsere App herunter.

Bei Glühbirnen ist dieser Weg quasi vorgezeichnet, weil sie relativ „dumm“ sind. Ihre Grundfunktionen benötigen keine eigene App. Das Eldorado, das Apple und den anderen Großen vorschwebt, sieht so aus: Man geht in einen Supermarkt und holt sich aus einem riesigen Angebot eine x-beliebige Lampe mit Matter-Code – ob aus China oder sonst woher ist egal. Das ist der Grund, warum die Großen Matter unterstützen, so ehrlich muss man sein.

In der Entwicklung bei Nuki spielte Sicherheit immer eine wichtige Rolle. Ist die Verbindung über Matter genauso sicher wie die bisherige Technologie?

Pansy: Auf jeden Fall ist sie nicht unsicherer. Denn der Matter-Standard geht ja davon aus, dass Geräte irgendwo herumhängen und von allen Seiten angegriffen werden können. Hohe Sicherheitsanforderungen sind mit ein Grund dafür, warum die Einführung von Matter so lange dauert. Die Situation erinnert ein wenig an den Start von HomeKit anno 2014. Damals war es fast unmöglich, das auf einen bestehenden Chip zu bekommen, weil die Verschlüsselung so rechenintensiv war. Mit unserem Smart Lock der ersten Generation haben wir es versucht, aber das Pairing und das Aufschließen hat in der Praxis viel zu lange gedauert.

Also haben wir das Smart Lock 2 gemacht mit einem besseren Chip und einer besseren Library. Und jetzt ist es wieder ähnlich. Das Matter-SDK hat riesige Ausmaße. Für die Validierung, ob ein Gerät zertifiziert ist, wird mit einer Blockchain kommuniziert. Es kommen viele Zertifikate zum Einsatz, was alles rechenintensiv ist, und dazu führt, dass die vorhandene Hardware oftmals nicht ausreicht.

Das aktuelle Nuki Pro arbeitet mit WLAN. Ist das eine Option für Matter oder gehen Sie auf den energiesparenderen Funkstandard Thread?

Pansy: Bei der Entwicklung des Matter-SDKs ist immer davon ausgegangen worden, dass batteriebetriebene Geräte mit Thread arbeiten und fest verkabelte mit Wi-Fi. Dass es auch anders sein kann, beweist das aktuelle Nuki Smart Lock 3.0 Pro. Es ist ein kleines Wunderwerk der Technik, das monatelang per Wi-Fi verbunden sein kann, obwohl die Batterien auch noch den Motor antreiben und den Schlüssel drehen müssen. Ich hätte nie gedacht, dass wir so weit kommen.

Seine Effizienz verdankt es nicht nur der Hardware, sondern auch unserem Protokoll, das dahintersteckt. Leider ist das Matter-Protokoll für Wi-Fi nicht so effizient aufgesetzt. Da wird viel mehr kommuniziert, was zulasten der Batterielebensdauer geht. Deshalb ist Thread für uns die bessere Wahl. Abgesehen vom Vorteil, dass ich nur einen Border Router benötige und der Rest organisiert sich magisch von selbst. Ich brauche keine Bridge, wie für Bluetooth. Die wollen wir ja eigentlich loswerden.


„Leider ist das Matter-Protokoll für Wi-Fi nicht so effizient aufgesetzt. Deshalb ist Thread für uns die bessere Wahl.“


Heißt das, es wird auch keine Matter-Bridge für die bisherigen Nuki Smart Locks geben? Damit ließe sich Matter ja auf diesen nachrüsten?

Pansy: Ich sage nicht, dass es so etwas nie von uns geben wird, aber im Grunde will niemand eine Bridge. Sie war immer nur ein Hilfsmittel, das für IP-Verbindungen nötig war. Ein ideales Smart Lock braucht keine Bridge. Und wir wollen das ideale Smart Lock bauen.

Ändert Matter etwas daran, wie das Lock mit Smarthome-Systemen verbunden wird? Aktuell gibt es da ja verschiedene Wege: HomeKit, den Online-Dienst Nuki Web und Ihre HTTP-APIs?

Pansy: Das wäre eigentlich unsere Hoffnung, dass irgendwann alles mit Matter geht. Dazu müssten wir die vielen Features unserer APIs aber erst einmal in die Matter-Spezifikationen bekommen – damit sie über eine Matter-Verbindung erreichbar sind. Und Matter mit seinem QR-Code und anderen Dingen ist für Systemanbieter aktuell noch schwerer zu integrieren als eine HTTP-API. Das wird sich mit zunehmender Verbreitung ändern. Weil immer mehr Leute Anleitungen schreiben und Module, die man integrieren kann. Mich erinnert das wieder an die HomeKit-Anfänge. Da kam von Apple eine Spezifikation mit 300 Seiten, dazu gab es Test Cases mit 500 Seiten und alles musste berücksichtigt werden.

Heute kaufst Du einen Chip von einem Anbieter wie SiLabs und bekommst dazu eine Library in der vieles schon vorzertifiziert ist. Das macht die Sache hundertmal einfacher. So kommen wir vielleicht dahin, dass wir unsere eigenen APIs für Basisfunktionen auslaufen lassen können. Wann das sein wird, oder ob es überhaupt so weit kommt, ist derzeit aber nicht absehbar.

Aktuell kämpft der Standard mit Inkompatibilitäten. Dinge funktionieren in einem System, in einem anderen jedoch nicht. Wundert Sie das.

Pansy: Nein, das wundert mich nicht. Das sind die Kinderschuhe. Am Anfang bei HomeKit war es genauso und es ist nicht zu vermeiden, wenn so viele Geräte aufeinandertreffen. Daran ändert auch die Zertifizierung nichts. Denn was die CSA macht, ist ja nur das einzelne Produkt zu überprüfen, also etwa unser Smart Lock. Wie es sich im Zusammenspiel verhält, zeigt oft erst die Praxis. Es gibt so viele Szenarien, die gar nicht alle getestet werden können. Auch nicht auf den regelmäßigen Test-Events der CSA. Hinzu kommen Bugs, weil die Lösungen sehr neu sind. Und das alles trifft dann auf hohe Erwartungen, die zu Beginn geschürt wurden.

Manche Hersteller wünschen sich, dass die Plattform-Betreiber Amazon, Apple, Google und SmartThings stärker in die Zertifizierung einbezogen werden. Wie sehen Sie das?

Pansy: Die Plattformen können sich aus dem Portfolio herauspicken, was sie unterstützen wollen und was nicht. Ja, das ist so. Ich halte es aber für unrealistisch, so etwas einzufordern, wenn man sich die marktwirtschaftlichen Gegebenheiten anschaut. Die Unternehmen sind zu unterschiedlich, als dass man von jedem das Gleiche verlangen könnte. In manchen laufen Sparprogramme, da werden ganze Abteilungen entlassen – und mit ihnen Leute, die am Matter-Standard gearbeitet haben. Nicht jeder kann dieselben Ressourcen aufwenden wie Apple.


„Da werden ganze Abteilungen entlassen – und mit ihnen Leute, die am Matter-Standard gearbeitet haben.“


Uns wäre es schließlich auch nicht recht, wenn es hieße, alle Smart Locks müssen dieselben Funktionen über Matter anbieten. Das sollen die Anbieter schon selbst entscheiden. Am besten, der Markt regelt es: Wenn Kunden sich etwa bei Amazon beschweren, dass etwas nicht geht, das bei Apple funktioniert ist, wird das irgendwann Wirkung zeigen. Ich halte es für besser, wenn mehr am freien Markt entschieden wird und nicht zu viele Vorgaben da sind – außer einer gemeinsamen Sprache und den damit verbundenen Möglichkeiten.

Aber – und das ist das Allerwichtigste – man muss dem Ganzen Zeit geben. Nach dem Start kommt immer mal ein Tal der Tränen, und wenn man durch dieses hindurch ist, freut man sich, dass es wieder aufwärtsgeht.

Herr Pansy, vielen Dank für dieses Gespräch.

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